Orgelgeschichten aus dem Oldenburger Münsterland

in den »Heimatblättern«, Beilage zur Oldenburgischen Volkszeitung

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Stimmung bei der Orgel und im Dorfkrug

Geschichte und Geschichten zur Orgel in St. Vitus Visbek

von Dr. Gabriel Isenberg

 

Die Kreienbrink-Orgel von 1972 | Foto: Gabriel Isenberg, 2021
Die Kreienbrink-Orgel von 1972 | Foto: Gabriel Isenberg, 2021

Die Visbeker Kirchengeschichte reicht bereits rund 1200 Jahre zurück. Unter dem Patronat der Benediktinerabtei Corvey war die „ecclesia Fiscbechi“ als Missionszelle ein Ausgangspunkt für die Christianisierung des westlichen Nordlandes. Im 11./12. Jahrhundert entstand dann die erste romanische Steinkirche – das war aber eine Zeit, als die Kirchen noch nicht mit Orgeln ausgestattet waren. Erst im Laufe des 13. Jahrhunderts manifestierte sich die Orgel als Instrument des christlichen Kultus. In unserer Gegend sind die ersten Orgeln zu Beginn des 15. Jahrhunderts nachzuweisen, so 1414 in Vechta und 1453 in Wildeshausen.
Und Wildeshausen ist auch das Stichwort, mit dem die Visbeker Orgelgeschichte beginnt: Als die Alexanderkirche in Wildeshausen unter der schwedischen Herrschaft nach dem Dreißigjährigen Krieg protestantisch wurde, zogen die Stiftsherren des Alexanderkapitels von dort nach Visbek, bevor sie 1667 nach Vechta gingen. Für ihren Chordienst, d. h. die Messfeiern und die Stundengebete brauchten sie eine Orgel zur musikalischen Begleitung. Dass die Stiftsherren in Visbek tatsächlich ein solches Instrument anschafften, ist nicht belegt, jedoch wurde laut einer Eintragung in den Visbeker Kirchenrechnungen 1671 ein Orgelbauer beauftragt, die vorhandene kleine Orgel zu untersuchen und zu reparieren („beßern“). Damit können wir davon ausgehen, dass es zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem eine Orgel in der Visbeker Kirche gab, die dann auch beim Chordienst des Alexanderkapitels erklungen sein wird.
Eine weitere Reparatur ist 1681 belegt, als der Uhrmacher Adrian außer der Kirchturmuhr auch die Orgel reparierte. Das Memorialbuch von 1686 verzeichnete ein „positiv oder örgelken ohn organisten und renten“ – das heißt, es fehlte jemand, der das Instrument spielen konnte, und es fehlte auch an Geld, um das Instrument weiter zu pflegen.

 

Die Barockorgel von 1714
1714 erhielt die Visbeker Kirche dann ihre erste größere Orgel. Zwar wird der Orgelbauer in den Archivalien nicht namentlich genannt; da die Orgel aber von Vreden nach Visbek transportiert werden musste, kommt für die Arbeit nur der seinerzeit in Vreden ansässige Orgelbaumeister Mauritz Hermann Böntrup (gestorben um 1719) infrage. Dieser hatte in der Region schon mehrfach Orgeln gebaut, z. B. in Lastrup und in Barßel. Mit 11 Registern (auf einem Manualwerk und mit angehängtem Pedal) hatte die Orgel eine für die damalige Zeit durchaus übliche Größe.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts sind mehrfach kleinere Reparaturen belegt, so zum Beispiel 1759 durch den „orgelaffinen“ Rektor der Vechtaer Knabenschule und Kantor Franz Wilhelm Caesar (1712–1780). Bei größeren Arbeiten 1739/43 (durch Reinerus Caspary aus Hamburg) und 1802 (durch Anton Franz Schmid aus Quakenbrück) wurden auch einzelne Register erneuert.

 

Orgelzeichnung von Joh. Bernhard Kröger (Goldenstedt), 1837 | Reproduktion nach Winfried Schlepphorst, Der Orgelbau im westlichen Niedersachsen, Kassel 1975, Abb. 36 (dort ohne Quellennachweis)
Orgelzeichnung von Joh. Bernhard Kröger (Goldenstedt), 1837 | Reproduktion nach Winfried Schlepphorst, Der Orgelbau im westlichen Niedersachsen, Kassel 1975, Abb. 36 (dort ohne Quellennachweis)

In der neuen Kirche steht eine Vergrößerung an

Als dann 1810/11 die alte romanische Kirche abgebrochen und eine neue Kirche erbaut wurde, übertrug der Quakenbrücker Orgelbauer Anton Franz Schmid (1765–1846) die knapp 100 Jahre alte Barockorgel in die neue Kirche.
Doch bald zeigte sich der Wunsch nach einer Vergrößerung des Instruments, dessen Klang „dem Gesange Gravität verschaffen“ könne. Das sah auch Prof. Niemöller aus Vechta so, der die Gemeinde in Orgelfragen beriet. Der Orgelbauer Johann Bernhard Kröger (1798–1878) aus Goldenstedt hatte dazu 1837 ein Angebot für die Erweiterung der Orgel vorgelegt, für die er 485 Reichstaler veranschlagt hatte. Bei den Kosten hatte sich der Orgelbauer allerdings ziemlich verkalkuliert, so dass ihn das Projekt bis an den Rand des Konkurses brachte: Am Ende kostete der ganze Umbau 1283 Reichstaler!
Nach Abschluss der Arbeiten 1839 hatte die Orgel nun 23 Register auf zwei Manualen und Pedal. Nach wie vor befand sich die Spielanlage (der Sitz des Organisten) seitlich an der Orgel. Der Gutachter Niemöller war mit der Arbeit des Orgelbauers allerdings nicht ganz zufrieden, er bemängelte vor allem die schwere Spielart.

 

Die Orgel in der Notkirche
Als die baufällige Kirche 1861 geschlossen werden musste, wurde ein Teil der Orgel in die Notkirche übertragen – die restlichen Teile wurden auf dem Dachboden der Notkirche zwischengelagert. Dazu hatte man 1862 den „alten Kröger“, den Goldenstedter Orgelbauer Johann Bernhard Kröger beauftragt.
Zum Pfingstfest 1864 war die Orgel in einem solch schlechten Zustand, dass der Lehrer und Organist Adelmann den Orgelbauer bat, zur Reparatur schleunigst nach Visbek zu kommen. Denn schließlich hatte sich Kröger laut Vertrag dazu verpflichtet, alle in den nächsten 10 Jahren anfallenden Reparaturen unentgeltlich durchzuführen. Doch Kröger kam nicht. Und „im Festhochamt gab die Orgel viele Mißtöne von sich. Heuler und Versager taten das übrige.“ Noch dringlicher gab man Nachricht an den alten Kröger, er möge doch endlich zur Reparatur nach Visbek kommen. Aber selbst ein persönliches Gespräch des Feldhüters Berens, der Kröger zufällig in Vechta getroffen hatte, brachte nichts. Inzwischen stand bereits das Fronleichnamsfest vor der Tür – und endlich hatte Kröger einen seiner Orgelbauer-Söhne, den jungen Gorgonius (1829–1892), geschickt, der sich der Orgel annahm. Doch leider war die Orgel immer noch nicht in Ordnung.
Daraufhin, so heißt es in einer Erzählung, kam am Samstag, den 4. Juni 1864, vormittags um 10 Uhr, tatsächlich der alte Kröger höchstpersönlich und brachte die Orgel – allerdings sichtlich missmutig – endlich wieder vollends in Ordnung. Bereits gegen Mittag reiste er wieder ab, doch sein Hilfsarbeiter, den man auch den „roten Teufel“ nannte, blieb noch länger vor Ort und heizte mit seiner Stimmungsmusik im Dorfkrug ordentlich ein. So war nicht nur die Orgel wieder in bester Stimmung, sondern auch in der Dorfkrug herrschte ausgelassene Stimmung!

 

Zeichnung zum Umbau der Orgel, Orgelbau Fleiter (Münster), 1926 | OAV B-56c-2
Zeichnung zum Umbau der Orgel, Orgelbau Fleiter (Münster), 1926 | OAV B-56c-2

Neue Kirche, neue Orgel
Nach vielem Hin und Her war 1876 endlich die neugotische St.-Vitus-Kirche fertiggestellt. In Sachen Orgel geben die Akten hier keine konkrete Auskunft, es ist aber davon auszugehen, dass die Orgelbauerfamilie Kröger die alte Orgel in der neuen Kirche wieder aufstellte. Die weiteren Baumaßnahmen an der Kirche (neuer Turm 1882/83, 1892 Sicherungsmaßnahmen mit Verstärkung von Fundament, Pfeilern und Gewölbe) werden sicherlich nicht ganz spurlos an dem Instrument vorbeigegangen sein, so dass es nur logisch ist, dass mit dem Jahrhundertwechsel auch ein Orgelneubau anstand. Hierzu hatte man den Vechtaer Orgelbauer Bernhard Kröger (1861–1918) beauftragt – ein Mitglied der inzwischen in dritter Generation tätigen Orgelbauerfamilie. Das im Oktober 1901 fertiggestellte Instrument mit seinem vom Tischler August Rüve aus Emstek gefertigten Gehäuse stand auf einer neu errichteten Empore und kostete rund 9300 Mark. Es hatte 25 Register auf zwei Manualen und Pedal und mechanische Kegelladen, was damals eher als unmodern gegolten haben dürfte, denn die allermeisten Orgelbauer bauten in dieser Zeit pneumatische (und nicht mechanische) Systeme.
Nach 25 Jahren stand eine dringende Überarbeitung des Instruments an, zwischenzeitlich musste man sich eines auf der Orgelempore aufgestellten Harmoniums zur Begleitung des Gemeindegesangs bedienen, da die Orgel keine brauchbaren Klänge mehr von sich gab. Die Orgelbauwerkstatt Friedrich Fleiter (Inh. Ludwig Fleiter) aus Münster nahm 1926 einen durchgreifenden Umbau vor – im Grunde genommen ein technischer Neubau unter Verwendung des vorhandenen Pfeifenmaterials. Die Orgel hatte nun nach dem Umbau 27 Register (also zwei mehr als vorher) und verwendete das pneumatische Taschenladensystem. Die Arbeiten waren Ende Januar 1927 fertiggestellt. Ein altes Foto zeigt das neugotische Gehäuse der Orgel, die ganz in dem Bogen im Turmraum aufgestellt war.

 

Die Kreienbrink-Orgel von 1972 | Foto: Gabriel Isenberg, 2021
Die Kreienbrink-Orgel von 1972 | Foto: Gabriel Isenberg, 2021

Die Kreienbrink-Orgel von 1972
45 Jahre später stand erneut eine Erneuerung der Orgel an. Inzwischen hatte sich im Orgelbau allgemein gezeigt, dass die pneumatische Bauweise sehr wartungsintensiv ist. Und auch die klanglichen Vorstellungen hatten sich gewandelt, so dass man ein von Grund auf neues Instrument plante, das sich an der Bauweise des Barockorgelbaus orientierte.
Gebaut wurde die neue Orgel 1972 von der Osnabrücker Orgelbauwerkstatt Matthias Kreienbrink, als Sachverständiger begleitete der im Januar 2024 verstorbene Werner Haselier (Friesoythe) den Bau. Zusammen mit der Orgel entstand auch eine neue, erweiterte Empore, so dass die Orgel – anders als das Vorgängerinstrument – nun nicht mehr im Turmraum untergebracht war, sondern davor stehen konnte und somit im Kirchenraum klanglich präsenter ist. Die 30 Register sind auf zwei Manuale und Pedal verteilt und werden mit mechanischer Spieltraktur und elektrischer Registertraktur bedient. Die Verteilung der Werke kann man am Gehäuse deutlich ablesen: Die Pedalpfeifen sind hinter den jeweils zwei großen Außenfeldern aufgestellt, das Hauptwerk befindet sich mittig oben und darunter das Schwellwerk, das durch Plexiglasjalousien in der Lautstärke verändert werden kann (nur das Register Prinzipal 4', dessen Pfeifen vorne im Prospekt stehen, ist nicht schwellbar). Das aus Eiche gefertigte Gehäuse (im Innern Gabun-Holz) beherbergt insgesamt 2196 Pfeifen aus Zinn-Blei-Legierungen, Holz und Kupfer. Die Intonation, d. h. die Klanggebung, übernahmen Gottfried Gabriel und Theo Schulz von der Fa. Kreienbrink. Die Holzschnitzarbeiten am Gehäuse mit den singenden Engeln schuf der Künstler Ferdinand Starmann aus Neuenkirchen.
Im Rahmen seiner Gesamteinspielung der Bach-Orgelwerke nahm der Kölner Organist und Hochschulprofessor Wolfgang Stockmeier um 1980 auch einige Werke an der Visbeker Orgel auf LP/CD auf.
Im Anschluss an die Innenrenovierung der Kirche erfolgte 2007 eine Reinigung, Überholung und Nachintonation der Orgel durch den Orgelbauer Stefan Peters aus Glandorf (ehem. Mitarbeiter bei Kreienbrink).
Das Klangbild der Visbeker Orgel ist für die Erbauungszeit typisch obertonreich mit einer herben Tonansprache angelegt. Mit den zwei freien Kombinationen und der freien Pedalkombination lassen sich mehrere Registrierungen vorprogrammieren. Eine Besonderheit ist der Zimbelstern, der sich vorne vor der mittleren Prospektpfeife befindet: Wenn er eingeschaltet wird, dreht sich der Stern und es erklingen leise Glöckchen.

 

Die Bernhard-Kröger-Orgel von 1901 | Postkarte, vor 1926
Die Bernhard-Kröger-Orgel von 1901 | Postkarte, vor 1926

Über 350 Jahre Visbeker Orgelgeschichte
In Visbek blicken wir somit heute auf eine über 350-jährige Orgelgeschichte zurück, in der wir von vier Orgelneubauten und mehreren, teils größeren Umbauten wissen. Dass die heutige Orgel mit dem versierten und engagierten Spiel des jungen Kirchenmusikers Johannes Kühling nicht nur für das liturgische Orgelspiel geeignet ist, sondern auch für konzertante Zwecke vielfältige Klangfarben bereithält, zeigten im vergangenen Herbst die erfolgreichen Konzerte im Rahmen des ersten Visbeker Orgelherbsts. Dabei war im Abschlusskonzert am 5. November 2023 sogar Filmmusik auf der Orgel zu hören: Marco Schomacher aus Münster improvisierte zu dem Stummfilmklassiker „Der Glöckner von Notre Dame“ von 1923.
Einmal mehr zeigte sich hier, wie sehr es die Orgel vermag, Stimmungen zu erzeugen – nicht nur im Dorfkrug, sondern auch in der Kirche: von zurückhaltend bis erhaben, von meditativ bis festlich, von bodenständig bis himmlisch.

 

 


Hier finden Sie einen detaillierten geschichtlichen Überblick mit Dispositions- und Quellenangaben:

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