in den »Heimatblättern«, Beilage zur Oldenburgischen Volkszeitung
von Dr. Gabriel Isenberg
Im Vergleich zu vielen anderen Pfarrkirchen gehört die Rüschendorfer St.-Agnes-Kirche zu den noch jüngeren Kirchen im Oldenburger Münsterland. Und ihre heutige Orgel ist tatsächlich eine der
jüngsten im Kreis Vechta.
Begonnen hat die Geschichte vor rund 120 Jahren, als man mit dem Bau der Kirche nach dem Vorbild der St.-Antonius-Kirche in Rechterfeld begann. Nach der feierlichen Kirchweihe am 22. Mai 1905
musste die Gemeinde zunächst noch einige Jahre auf eine Orgel warten – schließlich war der Kirchbau nicht gerade billig gewesen, so dass die Einrichtungsgegenstände erst nach und nach angeschafft
werden konnten. Vermutlich behalf man sich die ersten Jahre mit einem Harmonium für die musikalische Begleitung der Gottesdienste.
Die erste Rüschendorfer Orgel: Das letzte Werk der Orgelbauerfamilie Kröger
Die Anschaffung der Orgel musste komplett aus Spendengeldern finanziert werden. Aber hier war man zu Beginn des Jahres 1912 auch schon recht weit gekommen, so dass Planungen für die neue Orgel
konkretisiert werden konnten. Ein Expertengremium, bestehend aus den Herren Heinrich Könings (Domvikar und Domkantor in Münster), F. Funke (Essen) und Heinrich Gründing (Seminarlehrer in Vechta),
nahm sich zusammen mit Friedrich von Garrel (Hauptlehrer in Bergfeine) und Kaplan Joseph Henke dieser Aufgabe an. Die Überlegung, die alte Orgel aus der Dammer Pfarrkirche nach Rüschendorf zu
transferieren, verwarf man schnell. Vielmehr hatte man sich die 1909 in Hemmelte bei Lastrup von dem Orgelbauer Bernhard Joseph Kröger (1861–1918) aus Vechta erbaute Orgel genau angesehen und
befand, dass ein ähnliches Werk auch in die Rüschendorfer Kirche passen könnte. Daraufhin reichte Kröger ein Angebot ein, das Kaplan Henke am 24. Juni 1912 dem Bischöflich Münsterschen Offizialat
in Vechta mit der Bitte um Genehmigung vorlegte. Gleichzeitig sollte auch eine neue Orgelempore gebaut werden. Dem Schreiben fügte er eine Zeichnung der projektierten Empore und des
Orgelprospekts von der Kunstanstalt Gebrüder Jäger aus Vechta bei, die auch den Hochaltar und weitere Einrichtungsgegenstände der Rüschendorfer Kirche hergestellt hatte. Leider haben sich diese
Zeichnungen in den Archivbeständen nicht mehr erhalten, so dass wir heute nicht mehr wissen, wie das Äußere der Orgel gestaltet war.
Auch können wir nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, ob die in Henkes Schreiben genannte Disposition (also die Zusammenstellung der Register, nach der das Instrument gebaut werden
sollte) tatsächlich in dieser Form zur Ausführung kam. Jedenfalls geben die Daten uns eine ungefähre Ahnung vom Aussehen und Klang der ersten Rüschendorfer Orgel. Die 1913 von Kröger
fertiggestellte Orgel war nach dem seinerzeit modernen pneumatischen Kegelladensystem gebaut und mit zahlreichen Ober- und Unteroktavkoppeln versehen, so dass alle Register auch wahlweise eine
Oktave höher oder tiefer angespielt werden konnten.
Die Orgel in Rüschendorf war zugleich das letzte Opus der seit 1825 aktiven Orgelbauerfamilie Kröger, die in den knapp 100 Jahren ihres Bestehens in zahlreichen Kirchen des Oldenburger
Münsterlandes Orgeln gebaut hatte. Bernhard Joseph Kröger, Orgelbauer in dritter Generation, musste noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs seinen Betrieb aus gesundheitlichen Gründen aufgeben.
Die zweite Orgel: Der Orgelbauer verunglückt vor der Fertigstellung
Fast ein halbes Jahrhundert tat die Kröger-Orgel von 1913 ihren Dienst. In den 1950er Jahren gab es einige Erneuerungsarbeiten um und in der St.-Agnes-Kirche. Zunächst wurde 1955 der Turm durch
eine Neuverkleidung mit Klinkerverbund modernisiert. Und zu Beginn der 1960er Jahre erhielten die Fenster im Kirchenschiff eine neue Verglasung, und das neugotische Inventar wurde teilweise durch
moderne Einrichtungsgegenstände ersetzt. Und dazu gehörte auch die Anschaffung einer neuen Orgel.
Aus den beiden Angeboten der Orgelbaufirmen Kruse in Lohne und Kreienbrink (ehemals Rohlfing) in Osnabrück entschied man sich für das deutlich günstigere Angebot der Firma Kruse. Herbert Kruse
(1931–1960) hatte in Hildesheim das Orgelbauhandwerk gelernt und sich dort 1953 selbständig gemacht. 1956 übernahm er in Goldenstedt die Orgelbauwerkstatt Otto Ritter und verlegte wenig später
den Firmensitz nach Lohne. Am 11. Februar 1960 erhielt er den Zuschlag für den Bau der neuen Orgel in der Rüschendorfer St.-Agnes-Kirche; der Kaufpreis wurde auf 18.000 DM festgesetzt. Und
sogleich konnte sich der Orgelbauer an die Arbeit machen. Doch die Einweihung des fertigen Instruments konnte er nicht mehr miterleben: Am 2. September 1960 starb er infolge eines tragischen
Verkehrsunfalls in Glandorf, als er auf dem Heimweg nach Lohne war. Sein Mitarbeiter Wolfgang Böttner, der seit 1958 bei Kruse beschäftigt war und 1959 die Meisterprüfung abgelegt hatte, stellte
das Instrument fertig. Allerdings gab es dabei Verzögerungen, so dass die Orgel nicht wie geplant gleichzeitig mit dem neuen Kindergarten am 2. Oktober 1960 eingeweiht werden konnte, sondern erst
drei Wochen später fertiggestellt war. Am 13. März 1961 erfolgte die Abnahmeprüfung durch den Orgelsachverständigen Otto Schmelz aus Vechta, der die Kirchengemeinde grundsätzlich zu dem „schönen
Instrument“ beglückwünschte, im Abnahmegutachten aber auch einige Kritikpunkte anführte.
Kruse hatte die Orgel nach dem elektropneumatischen Taschenladensystem gebaut – eine Technik, die zu dieser Zeit eigentlich schon nicht mehr „up to date“ war, hatte man sich doch inzwischen wieder auf die seit Jahrhunderten altbewährte vollmechanische Bauweise zurückbesonnen, die viel langlebiger und auch präziser ist. Und so ereilte die Rüschendorfer Orgel auch bald das gleiche Schicksal wie etliche andere Orgeln aus der Werkstatt Herbert Kruses, darunter die Instrumente in der Vechtaer Kirche Maria Frieden, in der Klosterkirche Vechta, im Dominikanerkloster Füchtel und in Kroge: Schon bald zeigten sich die ersten Probleme und Ausfälle. 1977 musste die Orgelbaufirma Kreienbrink aus Osnabrück im Rahmen einer Generalüberholung sämtliche Magnete für die Spiel- und Registertraktur austauschen. Doch auch das konnte nicht verhindern, dass sich der Zustand der Orgel bis Ende der 1980er Jahre immer weiter verschlechterte. Ein Gutachten, dass der Orgelsachverständige des Offizialats, Regionalkantor Stefan Decker aus Vechta, im Dezember 1990 verfasste und in dem er von einer Restaurierung abriet und den Bau eines neuen Instruments empfahl, gab den ersten Anstoß für die Planungen zu einer neuen Orgel.
Die dritte Orgel: Ein besonderes Instrument der Firma Fleiter aus Münster
Es dauerte jedoch noch zehn Jahre, bis die Sache konkret wurde: Nachdem Stefan Decker ein zweites Gutachten vorgelegt hatte, gründete sich am 18. Januar 2000 ein Orgelbauverein, der die nötigen
Schritte zum Orgelneubau in die Wege leiten sollte und im Spätsommer 2000 drei Orgelbaufirmen um die Ausarbeitung von Angeboten bat.
Am 6. Februar 2001 wurde auf einer gemeinsamen Sitzung von Kirchenausschuss und Orgelbauverein in Anwesenheit des Orgelsachverständigen Stefan Decker die Anschaffung einer neuen Orgel
beschlossen. Als die Gemeinde am 24. Februar 2001 mit der Orgelbaufirma Friedrich Fleiter aus Münster-Nienberge den Kaufvertrag über die Anschaffung der neuen Orgel für 281.880 DM abschloss,
waren bereits Spenden in Höhe von 80.000 DM eingegangen.
Nach Durchführung einer Haussammlung sowie Erlösen aus verschiedenen Aktionen zu Gunsten der Anschaffung einer neuen Orgel war die Finanzierung innerhalb kürzester Zeit gesichert. Die alte Orgel
wurde im Oktober 2002 abgebaut, die Rückwand der Kirche wurde ausgebessert und erhielt einen neuen Anstrich.
Die alte Orgel kam als Spende an die Steinfelder Organisation „Osteuropa-Solidarität“. Nach aufwendiger Renovierung durch zwei polnische Musikprofessoren konnte die Orgel mithilfe von Fachleuten
in der Kirche von Ківерці/Kiwerzi (Ukraine) wiederaufgebaut werden. Die in Zeiten des Kommunismus zerstörte Kirche war mit Mitteln aus der Renovabishilfe entsprechend hergerichtet worden. Im
Beisein von Kirchenprovisor Alois Busch erfolgte dort im Juli 2004 die Orgeleinweihung durch Weihbischof Heinrich Timmerevers und den örtlichen Bischof Маркиян Трофимяк/Markyjan Trofymjak des
Bistums Луцьк/Luzk.
Am 5. November 2002 begannen die Mitarbeiter der Firma Fleiter mit dem Aufbau der neuen Orgel in der Kirche in Rüschendorf. Bei der Einweihung am 14. Dezember 2002 spielte Regionalkantor Stefan
Decker die neue Orgel. Zu diesem Zeitpunkt war die Orgel bereits vollständig aus Spenden bezahlt!
Das Gehäuse der neuen Orgel ist aus Eichenholz und greift dezent die Bauformen der Empore auf. Die Schleierbretter sind den gotischen Ornamenten des Hochaltars und den Einfassungen der Empore
nachempfunden. Die Disposition mit 18 Registerzügen besteht aus 12 kompletten und 4 halben eigen-ständigen Registern. Durch das von der Orgelbauwerkstatt neu entwickelte System der anteiligen
Doppelschleifen sowie zwei Transmissionen konnte das vorhandene Material möglichst vielseitig ausgenutzt werden. Die drei mechanischen Kombinationstritte „Vorpleno“, „Pleno“ und „Auslöser“ wurden
von der Orgelbaufirma auf eigene Kosten hinzugefügt.
Um die Transmissionen zu ermöglichen, stehen alle Pfeifen auf einer einzigen Windlade. Insgesamt zählt die Orgel 894 Pfeifen. Für die Holzpfeifen wurde Eichen-, Kirsch- und Mahagoniholz
verwendet. Die Intonation ist grundtönig, aber recht füllig gehalten, so dass der kleine Kirchenraum mit dem Orgelklang gut ausgefüllt wird.
Einer der letzten Orgelneubauten im Kreis Vechta
Seit inzwischen über 21 Jahren versieht die Rüschendorfer Fleiter-Orgel treu ihren Dienst in Liturgie und Konzerten. Meistens wird sie dabei von Michael Lindek gespielt, der seit 1985 mit großem
Engagement die Gottesdienste in der St.-Agnes-Kirche musikalisch begleitet. Es ist immer wieder erstaunlich, wie vielseitig der Klang der Rüschendorfer Orgel mit ihren vergleichsweise wenigen
Registern ist. Das ist auch ein großer Verdienst all derjenigen, die damals an der Planung des Instruments beteiligt waren.
Die Rüschendorfer Orgel war übrigens einer der letzten Orgelneubauten im Kreis Vechta. Nach ihr folgten noch die Instrumente in Kroge (2006) und in der Klosterkirche Vechta (2014). Inzwischen
sind die meisten Kirchen mit qualitativ hochwertigen Orgeln ausgestattet, und nicht zuletzt werden auch die finanziellen Mittel knapper, so dass es sich manche Gemeinden kaum noch leisten können,
ihre minderwertigen Instrumente (von denen es durchaus auch noch welche im Kreis Vechta gibt) zu ersetzen. Aber das Beispiel der Rüschendorfer Fleiter-Orgel zeigt, dass es mit großem und
kreativem Engagement vor Ort möglich ist, ein solch hochwertiges Instrument anzuschaffen. Zweimal standen in der Rüschendorfer Kirche „letzte Orgeln“, d. h. die letzten Werke der jeweiligen
Orgelbauer. Nun soll die aktuelle Orgel nicht eine der letzten gewesen sein, die im Oldenburger Land neu gebaut wurden, sondern Ansporn, es auch andernorts dem Rüschendorfer Beispiel gleichzutun!
Hier finden Sie einen detaillierten geschichtlichen Überblick mit Dispositions- und Quellenangaben:
(zum Vergrößern auf das jeweilige Bild klicken)